Der Bücherschnapp | Helen & Thomas Docherty

Der Bücherschnapp | Gutenachtgeschichte Ellermann Verlag

Der Bücherschnapp | Gutenachtgeschichte
Ellermann Verlag

Der Bücherschnapp: Jeder braucht eine Gutenachtgeschichte, so lautet der Untertitel dieses Bilderbuchschätzchens von Ellermann. Seit Januar 2014 hoppelt der Bücherschnapp auch in deutsche Kinderzimmer und erreicht hoffentlich ganz viele Eltern, die vorlesen, und Kinder, die gebannt lauschen und genau gucken, was passiert. Und das ist am Anfang ziemlich geheimnisvoll, denn schließlich verschwinden im kuscheligen Kaninchental, wo Dachs, Igel, Eule und Hase sich Gute Nacht sagen, alle Lieblingsbücher spurlos!

Das kann doch wirklich nicht mit rechten Dingen zugehen, findet das ebenso mutige wie listenreiche Hasenkind Elisa Braun und denkt sich eine Falle aus, um dem Übeltäter auf die Schliche zu kommen. Ob es am Ende ein gemeiner Dieb aus ihrer Mitte ist? Prompt tappt der wahre Bösewicht in ihre Falle und entpuppt sich als gar nicht so garstig, wie alle dachten. Es ist nämlich nur der winzig kleine Bücherschnapp, dem einfach niemand etwas vorliest. Dabei möchte er zu gern auch einmal eine Geschichte vorm Einschlafen hören, so eine von Feuer speienden Drachen zum Beispiel. Oder auch ein schönes Märchen oder etwas richtig Gruseliges.

Diese gereimte Gutenachtgeschichte (sehr einfühlsam aus dem Englischen übersetzt von Dorothee Haentjes) ist bestimmt eine, die immer wieder vorgelesen werden muss. Sie zeigt ganz nebenbei, dass mancher Unfug gar nicht böse gemeint ist und man alles klären kann, wenn man miteinander redet. Fröhliche Buntstiftzeichnungen mit leichtem Strich untermalen die kurzen Reime und betonen die gemütliche Mondscheinstimmung in der Höhle, die kuschelige Tierrunde und die Jagd auf den Dieb. Und natürlich gibt es ein Happy End für alle: für die Tiere im Kaninchental, für den Bücherschnapp und für alle Kinder, die abends diese Geschichte hören. Ein klarer Schnapp fürs Bücherregal!

Die Arena | Under the Dome | Stephen King

Die Arena | Stephen King Heyne Verlag

Die Arena | Stephen King
Heyne Verlag

Monumental und beängstigend real erzählt Stephen King den beklemmend aussichtslosen Überlebenskampf einer von der Außenwelt abgeschnittenen amerikanischen Kleinstadt. Chester’s Mill liegt – wie sollte es bei King auch anders sein – im neuenglischen Bundesstaat Maine. Unter der Kuppel läuft die Menschlichkeit schnell aus dem Ruder, es entwickelt sich in beklemmend hohem Tempo eine zerstörerische und mörderische Eigendynamik.

Mit mehr als 1200 eng bedruckten Seiten ist „Die Arena“ gefühlt fast so dick wie die Bibel. Stephen King hat mit diesem Werk eine Idee umgesetzt, die er schon vor Jahrzehnten entwickelte. Als damals noch wenig routinierter Autor befand er das Ganze aber vor allem wegen der aufwendigen Recherche dann doch als zu komplex. Deswegen wanderte der Versuch eines Manuskripts in die Schublade. Vergessen hat er den Plot aber nie, das Thema gärte in ihm – und viele Romane später war die Zeit reif dafür.

Wer wie ich als Stephen-King-Fan der 80er lange keinen Roman des Meisters mehr gelesen hat, fühlt sich in alte Zeiten zurückversetzt. Ich war sofort wieder im Lesewahn, und weil King sich erzählerisch nochmals gesteigert hat, kam trotz des enormen Umfangs keine Zeile Langeweile auf. Manchmal hat man bei solchen Monumentalwerken ja das Gefühl, ein paar Hundert Seiten weniger hätten dicke gereicht, King aber zeichnet die Entwicklung der Charaktere und Handlungsstränge so überzeugend, dass weniger in diesem Fall nicht mehr gewesen wäre. Ich habe übrigens die Serie auf Pro 7 dazu nie gesehen, kann nicht beurteilen, wie die Romanvorlage dort umgesetzt wurde – „Die Arena“ funktioniert jedenfalls auch so, allein für sich, ohne Filmbilder im Kopf. Stephen King hat sich seit seinen Erfolgen der frühen Jahre beachtlich weiterentwickelt, er ist ein begnadeter Erzähler, der seinen Schöpfungen – guten wie bösen Charakteren – Entwicklungspotenzial in alle Richtungen einräumt. Fantasy der düsteren Sorte, gnadenlos gut!

Die wunderbaren Reisen des Marco Polo

Marco Polo | Bilderbuch Gerstenberg

Marco Polo | Bilderbuch
Gerstenberg

Im Frühjahr 1271 begibt sich Marco Polo, der Sohn eines venezianischen Kaufmanns, zusammen mit Vater und Onkel auf die abenteuerliche Reise ins ferne China. Was die Familie Polo auf dem gefährlichen Weg ins Reich der Mitte erlebt, wie viel Merkwürdiges und Wunderbares ihnen widerfährt, davon erzählt dieses mit asiatisch-orientalisch anmutenden Illustrationen geschmückte Sachbilderbuch.

„Die wunderbaren Reisen des Marco Polo“ gehörte für die Stiftung Buchkunst zu einem der schönsten deutschen Kinderbücher des Jahres 2009. Diese Ehre wird nur kunstvoll gestalteten Büchern zuteil, bei denen jedes Detail überzeugen muss: die Papierqualität, das Einbandmaterial, die Einbandgestaltung, die Bindeart – um nur einige Kriterien zu nennen. Kinder interessiert aber viel mehr, was ein Buch inhaltlich zu bieten hat. Und genau das kann sich ebenfalls sehen lassen. Darum sind die ersten Auflagen schnell vergriffen gewesen, im Frühjahr 2014 erscheint die 4. Auflage.

Die klare, absolut schnörkellose Sprache wirkt mit ihren kurzen Sätzen beinahe ein wenig karg. Darum beziehen sich die seltenen kritischen Stimmen zu diesem Buch fast immer auf die Sprache, die sich mancher opulenter, märchenhafter wünscht. Ich habe es total anders empfunden, denn genau diese ruhige Sprache hat mich fasziniert. Auch der Sohn (knapp 8 Jahre) lauschte aufmerksam jedem Wort und vertiefte sich in die Bilder. Es hatte fast etwas Meditatives, aus den wunderbaren Reisen des Marco Polo vorzulesen und die kunstvollen Illustrationen zu bestaunen. Die reale Welt um uns herum trat in den Hintergrund, wir segelten auf Schiffen über die Meere, besuchten Kreuzfahrerstädte, ritten auf Pferden und Kamelen durch staubige Wüsten und trafen auf Kublai Khan, den Herrscher über das riesige Reich der Mongolen.

An keiner Stelle nimmt die Fülle der Sachinformationen überhand, denn wenn es Kinder „packt“, sind sie unheimlich wissbegierig und fragen an manchen Stellen auch nach. Auf vielen Seiten gibt es ergänzende Erklärungen in Form eines Infoblocks für Kinder, die spezielle Fragen haben. Das Thema ist aber sicher normalerweise für Kinder unter 8 Jahren zu komplex. Nach oben aber gibt es keine Grenze, für Jugendliche und Erwachsene ist dieses besondere Reisetagebuch ebenso spannend und lehrreich. Darum ist es eine echte Familienlektüre für Familien mit Kindern im Schulalter, vor allem natürlich dann, wenn die Themen Seefahrer und Entdecker gerade angesagt sind.

Lindbergh | Torben Kuhlmann

Lindbergh | Torben Kuhlmann Nord-Süd-Verlag

Lindbergh | Torben Kuhlmann
Nord-Süd-Verlag

Lindbergh – ein Bilderbuch in gedeckten Farben, das von düsteren Zeiten erzählt und trotzdem alles andere als traurig ist. Ein Erstlingswerk, das so atemberaubend schön ist, episch und zugleich leicht aus dem Nichts dahergeflogen kommt, hat es verdient, ein großer Erfolg zu werden. Und das wird es bestimmt, denn diese Bildergeschichte von der kleinen, belesenen Maus mit Erfindungsgeist und Wagemut muss man einfach mögen. Etwas anderes ist gar nicht vorstellbar!

Den ganzen Tag lang habe ich mich darauf gefreut, diese Buchempfehlung für die abenteuerliche Geschichte einer fliegenden Maus zu schreiben. Denn ich habe mich heute Morgen in Lindbergh, diese Mäusegeschichte samt der wunderbaren Bilder, wirklich Hals über Kopf verliebt. Ein Bilderbuch für Schmetterlinge im Bauch, das der Fantasie gleich mehrfach Flügel verleiht. Im NordSüd Verlag habe ich damit „mein“ Buch des Frühjahrs 2014 gefunden. Oft sind vielschichtige Bilderbücher so furchtbar kompliziert. Man kennt sie ja, die Erwachsenenbilderbücher, schwere Kost, randvoll von dem „Besonderen“, das „aus dem Rahmen fällt“. So eins ist Lindbergh nicht, obwohl es besonders ist, obwohl es aus dem Rahmen fällt.

Das fängt schon mal damit an, dass es den üblichen Bilderbuchumfang sprengt und gut doppelt so dick ist wie ein „normales“ Bilderbuch. Vor allem die Illustrationen brauchen Raum und viele Seiten, um zum Leben zu erwachen, während die Textmenge nicht ausufert. Wir lernen eine kleine Maus kennen, deren Leben sich im Jahr 1912 schlagartig ändert, als von allen Seiten Bedrohungen auf sie zukommen. Schrecklich viele Mausefallen, lauernde Katzen – es brechen wahrhaft furchterregende Zeiten an, nicht nur für die Mäuse in Hamburg. Eines Tages hat unser kleiner Mäuseheld in höchster Not eine Vision, als er seine Verwandte, die Fledermaus, sieht. Wie elegant und fern aller Feinde sie dort oben an der Decke hängt und allen Gefahren einfach entfliegen kann. Fliegen, ja, fliegen müsste man können. Nach Amerika, über den großen Teich, in die neue Welt. Dorthin sind schon viele Mäuse auf dem Schiff gereist, das weiß die kleine Maus.

So beginnt der Mäusetraum vom Fliegen. Nicht alles klappt so, wie es soll, beinahe scheitert das kühne Unterfangen. Schließlich aber wird die kleine Maus doch noch zur Pionierin der Luftfahrt – und wie das alles mit Lindbergh zusammenhängt, zeigt sich ganz am Schluss. Denn natürlich ist das Buch auch eine Hommage an die wahren Wegbereiter der modernen Luftfahrt, die in der Chronik auf den letzten Seiten vorgestellt werden. Ich verneige mich vor der Leistung des jungen Künstlers Torben Kuhlmann, Jahrgang 1982. Das Buch ist sein erstes Bilderbuch, er kommt frisch von der Uni! Was uns da wohl noch in Zukunft erwarten mag – ich freu mich drauf.

Schattenstill | Tana French

Tana French | Schattenstill  Fischer Verlag

Tana French | Schattenstill
Fischer Verlag

Tana French schickt Detective Mike Kennedy in „Schattenstill“ nach Broken Harbour, eine deprimierende Siedlung im Einzugsgebiet von Dublin. Hier hat sich ein furchtbares Familiendrama ereignet, zwei Kleinkinder und ihr Vater sind tot, die Mutter überlebt schwer verletzt. Kennedy begegnet während seiner Ermittlungen dem alltäglichen Grauen: Zerbrochene Lebensträume in geisterhaften Bauruinen und die verzweifelten Versuche einer Familie, sich ihre Würde und Normalität zu bewahren.

Eine junge Familie sollte in ihren eigenen vier Wänden ausgelöscht werden, doch die Mutter überlebt trotz schwerster Verletzungen. Das Drama, das sich hier abgespielt hat, gibt Rätsel auf. War es ein heimtückischer Mord, hat der Mörder seine Opfer vorher über einen längeren Zeitraum beobachtet? Einiges deutet darauf hin, anderes spricht aber auch für einen erweiterten Suizid. Für Mike Kennedy und seinen jungen Partner Richie führen die Ermittlungen auch in die Abgründe ihres eigenen Inneren.

Tana French ist eine Meisterin der Charakterstudien. Sie schreibt Krimis, in der Brutalität nicht um ihrer selbst willen detailreich ausgewalzt wird. Die Verbrechen, so entsetzlich sie auch sind, verstören weniger als die seelischen Grauen, die sich dahinter verbergen. Ich liebe die ausgefeilte Sprache und die Plots der amerikanisch-italienischen Irin ebenso wie die Zeit, die sie sich lässt, um dichte Handlungsfäden zu spinnen, die der Leser erst langsam entwirrt. Für mich ist das Krimi-Slow-Food, das Gegenteil der Fast-Food-Metzelkrimis, in denen es schnell und meistens extrem blutrünstig zur Sache geht, wo Action die Handlung dominiert. Tana French lesen heißt langsam völlig abdriften in die Welten, die sie erschafft. Bei mir kommt dann immer eine ganz spezielle, etwas melancholische Stimmung auf. Schattenstill hat mir sprachlich und inhaltlich ausgezeichnet gefallen, wie auch schon die Vorgänger Grabesgrün, Totengleich und Sterbenskalt. Es sind Kriminalromane, die meiner Erfahrung nach eher Frauen ansprechen. Sie folgen auch nicht dem typischen Muster der genau definierten Reihenfolge mit gleichen Hauptfiguren. In jedem Roman finden sich zwar Charaktere wieder, aber in völlig anderem Zusammenhang. So ist man auch Kennedy schon mal begegnet, aber erst hier lernt man ihn wirklich kennen. Und man muss eben wissen, dass Tana French zwar auf ihre eigene Art superspannend schreibt, ihre Bücher aber keine ausgesprochenen Pageturner sind. Genau das gefällt mir daran, sie sind im Krime-Genre wirklich etwas Besonderes. Und das sehen auch andere so, denn Schattenstill erreichte 2012 (als Hardcover-Ausgabe) den 9. Platz auf der Krimi-Bestenliste der ZEIT.
Im Dezember 2014 ist „Geheimer Ort“ erschienen, der aber noch auf meiner Leseliste steht.