Mein jüngster Sohn ist mit seinen gerade mal sechs Jahren schon ein kleiner Texter. Überhaupt sind viele Erstklässler heute von Anfang an Schriftsteller, denn auch seine Klassenkamerad/inn/en schreiben nach wenigen Wochen Unterricht schon völlig selbstständig erste Texte, lange bevor sie flüssig lesen können. Das Prinzip heißt „Lesen durch Schreiben“ und hat in vielen Grundschulen das altbekannte umgekehrte Prinzip abgelöst. Während früher zunächst gelesen und dann erst geschrieben wurde, dürfen Kinder heute sofort loslegen mit dem Schreiben. Das funktioniert mit Anlauttabellen, die das Auffinden der einzelnen Laute ermöglichen. A wie Affe, E wie Elefant und so weiter. Die Anlauttabelle wird spielerisch eingeübt, die Kinder singen und „rappen“, klatschen Silben, tanzen, bewegen sich – es ist unglaublich, wie schnell sie das Ganze so lernen und verinnerlichen. Statt der langweiligen Fibel nutzt mein i-Dötzchen das Tinto-Buchstabenhaus als Anlauttabelle. Und so kommt es, dass er und seine Mitschüler/innen frei von der Leber weg schreiben, mit ganz vielen Fehlern, die verdeutlichen, was für ein komplexer Prozess der Schrifterwerb ist. Hören, sprechen, schreiben, lesen – eins führt zum anderen. Für alle Eltern, die sich näher mit diesem Konzept befassen möchten, bietet der Cornelsen Verlag eine Informationsseite an: Schreiben und Lesen mit TINTO.
So erklärt sich auch „LIBMAMAONTPAPABTMÜSLI“. Alles zusammen, ohne Abstände, denn Wortanfang und Wortende erkennen die Kinder oft noch nicht eindeutig. Das e bei liebe ist ein stummes e, es wird oft so „verschluckt“, dass es kaum zu hören ist. Das lange i, also ie, ist nach drei Schulwochen ebenfalls noch unbekannt. Mama, Papa sind vertraute Wörter, viele Kinder könnnen sie schon vor Schulbeginn schreiben. Zudem werden sie genau so geschrieben, wie sie gesprochen werden. Zum ONT führt ein falsch interpretiertes U. Bei BT hat der Jüngste die Vokale einfach vergessen. MÜSLI hat er zum ersten Mal und gleich richtig geschrieben, ist ja auch ein starkes Wort, bei dem jeder Buchstabe betont wird. Das alles hat er ganz allein und aus eigener Motivation geschafft, nach so kurzer Zeit!
Geschrieben wird zunächst in Druckbuchstaben, der „Leseschrift“. Auf der Anlauttabelle sind schon kleine und große Buchstaben aufgeführt, auch wenn viele Kinder bislang nur Großbuchstaben kennen und so beispielsweise schon vor der Schule ihren Namen und andere erste Wörter schreiben können. Die Schreibschrift kommt erst später hinzu.
Diesen Lernprozess und die schnellen Fortschritte finde ich wahnsinnig spannend und für die Kinder enorm motivierend. Ich bin schon gespannt auf den nächsten Text des Jüngsten im Hause Reimerlei.
Nachtrag 28.09.2012: Eben habe ich zufällig die in diesem Zusammenhang interessante Seite einer Autorin mit dem Beitrag „Die Probleme beim Erlernen der deutschen Schriftsprache“ entdeckt.
Nachtrag 09.10.2013: Das Thema scheint zu polarisieren, besonders nach dem sehr unzureichend recherchierten, reißerischen Titelthema des Spiegels „Die neue Schlechtschreibung“. Zitiert wird unter anderem auch der Germanist und Sprachforscher Wolfgang Steinig. Dessen Äußerungen lesen sich im Spiegel-Artikel jedoch ganz anders als seine differenziertere Kritik auf Grundlage der aktuellen Studie (die den Spiegel im Juni bewog, genüsslich die Rechtschreibkatastrophe auszurufen) in der Thüringer Allgemeinen Zeitung „Die Schule muss Kindern mehr zutrauen“.
Allerdings finde ich auch in diesem Text einige Aussagen, die ich nicht bestätigen kann. So gibt es Fehlerkontrollen und Rotstift ab der 2. Klasse, die Kinder prägen sich die falschen Schreibweisen und Endungen nicht jahrelang ein. Im Interview entsteht der Eindruck, die Motivation ließe schlagartig ab der 3. Klasse nach, weil sich bis dahin niemand um die Rechtschreibregeln kümmert, die Einhaltung dann aber gefordert wird. Das ist so nicht richtig. Die Rechtschreibregeln werden ab dem 2. Halbjahr der 1. Klasse geübt, sind im ganzen 2. Schuljahr ein Schwerpunktthema des Deutschunterrichts und werden im 3. und 4. Schuljahr vertieft.
Interessant, dass der Spiegel den Unterricht an einer Wuppertaler Grundschule als Ausnahme von der Regel darstellt:
Dass ein solcher Unterricht sogar mit „Tinto“ möglich ist, zeigt das Beispiel von Ann-Cathrin Michel. Zwar unterrichtet sie ihre erste Klasse in der Grundschule Echoer Straße in Wuppertal-Ronsdorf nach dem Lehrwerk, das auf der Reichen-Methode basiert – dies ist an ihrer Schule so üblich. Doch dabei achtet sie schon früh intensiv auf richtiges Schreiben. (Der Spiegel, 25/2013, Die neue Schlechtschreibung)
Wir wohnen in Wuppertal-Vohwinkel und in der Klasse meines Grundschulkindes und in allen mir bekannten nordrhein-westfälischen Grundschulen, die mit TINTO arbeiten, wird es ebenfalls so gehandhabt. Eine Ausnahme also – oder doch die Regel?
Und wie wird eigentlich der pädagogische Nachwuchs ausgebildet, was ist der aktuelle Stand?
Angehende Grundschullehrer/innen hier an der Bergischen Universität Wuppertal werden nicht darauf gedrillt, im Unterricht die Rechtschreibregeln außer Kraft zu setzen. Meine Tochter studiert dort (Grundschullehramt); die Nachteile der Methode „Lesen durch Schreiben“ werden im Fach Rechtschreibdidaktik angesprochen und kontrovers diskutiert.
Wie es weiterging: Nachtrag 28.08.2014
Zwei Jahre sind seit der Einschulung meines jüngsten Sohnes nun vergangen, seit August ist er Drittklässler. Der SPIEGEL-Schlechtschreibungs-Artikel ist Schnee des letzten Sommers, aber wie mir die Klickraten dieses Artikels immer wieder um den Schuljahresbeginn herum zeigen, ist das Interesse nach wie vor groß. Was kann ein „TINTO-Kind“ nach zwei Schuljahren? Wie liest es, wie schreibt es? Für den direkten Vergleich mit dem Bild oben nun ein kleiner Aufsatz über ein gelesenes Buch, in den Sommerferien für die Sandstreusel verfasst. Vom Kind selbst formuliert und geschrieben. Die offensichtlichsten Fehler im ersten Entwurf sind wir später zusammen durchgegangen. Das gemeinsame Verbessern ist bei der TINTO-Methode ab einem bestimmten Schreibwortschatz wichtig. Häufig sind es Flüchtigkeitsfehler, die selbst erkannt werden. Einige Fehler wie z. B. die falsche Großschreibung bei Anderen habe ich bewusst nicht verbessert, denn sehr spezielle Regeln muss ein Kind Ende der 2. Klasse nicht kennen. Das doppelte n bei spannend oder das ie bei Schildkröte und einige weitere Fehler haben wir aber besprochen und später korrigiert. Dieser kleine Text bringt den Stand der Fortschritte nach zwei Jahren mit TINTO sehr gut auf den Punkt. Die Schreibschrift wurde auch bereits eingeführt, es ist hier die weniger geschwungene „Vereinfachte Ausgangsschrift“. Viel hat sich getan seit LIBMAMAONTPAPABTMÜSLI – nun wird sich in der 3. Klasse zeigen, wie sich das Erlernte in Schulnoten darstellt. Ich werde auch über die Erfahrungen mit der Rechtschreibwerkstatt und den Abschreibtexten von Sommer-Stumpenhorst berichten, die nun in der 3. Klasse in leicht abgewandelter Form zum Einsatz kommen.
Update 20.08.2015
Wieder ein Jahr weiter. Der Drittklässler hat kurz vor dem Übergang in die 4. Jahrgangstufe umzugsbedingt die Grundschule gewechselt. Nun wird es erst richtig spannend, denn die neue Schule arbeitet nicht mit TINTO. Das Zeugnis der Klasse 3 (2. Halbjahr) wurde noch von der bisherigen Klassenlehrerin für die neue Schule ausgestellt. Rechtschreibung ist mit einem „befriedigend“ insgesamt das schwächste Fach. Im Bereich Deutsch setzt sich die Gesamtnote (gut) zusammen aus Sprachgebrauch (gut), Lesen (sehr gut) und der mit befriedigend bewerteten Rechtschreibung. Im Zeugnis heißt es dazu ausführlich:
„…kennt grundlegende Regeln der Rechtschreibung und nutzt diese bei entsprechender Konzentration. Das Ableiten von Wörtern aus der Grundform oder aus verwandten Formen gelingt in isolierten Übungen. Satzzeichen wie Punkt, Fragezeichen oder Ausrufezeichen setzt er passend. In freien Texten entstehen Fehler durch mangelnde Aufmerksamkeit und Kontrolle.“
Nicht also an Kenntnissen mangelt es, sondern an Aufmerksamkeit, Konzentration und Kontrolle. Zu Beginn des 4. Schuljahres werden nun Kommaregeln geübt. Ich berichte weiter, ob und in welchen Bereichen der Rechtschreibung im 4. Schuljahr Leistungsunterschiede erkennbar werden – verglichen mit Kindern, die nach einem anderen System gelernt haben.
Update 29.08.2016
Es ist wieder Schulstart, viele gelangen auf der Suche nach TINTO hierher. Mein Jüngster ist mit Ferienende 2016 zum Gymnasium gewechselt. Wie erwartet, hatte er hinsichtlich der Rechtschreibung an der anderen Grundschule in der 4. Klasse zunächst etwas Rückstand, konnte diesen aber dank einer engagierten Lehrerin rasch aufholen. Seine Fortschritte in der Rechtschreibung verdankt er aber auch dem Glücksfall, dass er sehr gerne, ausdauernd und viel liest. Er erhielt mit einem Notenschnitt von 1,9 eine klare Empfehlung fürs Gymnasium. Schwächstes Fach im großen Bereich Deutsch (Gesamtnote 2,0) war mit 3,0 weiterhin die Rechtschreibung, Ich denke, alle weiteren schulischen Entwicklungen sind nun idividuell und nicht mehr auf TINTO & Co zurückzuführen. Ich beschließe diese kleine persönliche Langzeitstudie also mit dem guten Rat, locker zu bleiben und sich nicht verunsichern zu lassen.Ob TINTO oder nicht TINTO, das entscheidet wirklich nicht über Schreibkompetenz und schulische Zukunft von Schülerinnen und Schülern.