Nein, meinen Busen zierte am 5. Juli in Düsseldorf kein Dave-Gahan-Konterfei. Sein Gesicht wölbte sich mir aber auf unzähligen Shirts weiblicher Fans in verschiedensten Ausprägungen der Verzerrtheit entgegen. Je nach Körbchen- und Konfektionsgröße nicht immer ein originalgetreuer Anblick, aber der Verkauf der Fan-Shirts für junge und alte Girlies lässt sich schon allein aus marketingtechnischen Erwägungen nicht auf die Größen beschränken, die das Antlitz des Frontmanns in eine erträgliche Dreidimensionalität rücken. Vergleichbare Männer-Shirts gab es anscheinend nicht, jedenfalls habe ich keines gesichtet. Dave schmiegte sich nur an weibliche Rundungen.
Ohne Fanwear, dafür mit vermeintlich bequemem Schuhwerk ausgerüstet, fanden wir uns zeitig vor der Bühne ein. Front of Stage, genauer gesagt FOS 1 – diesmal musste das sein, denn wir wollten uns nicht noch mal Depeche Mode in Ameisengröße vom Rang geben. Die Monitore sind kein adäquater Ersatz dafür, den Ablauf auf der Bühne tatsächlich mitverfolgen zu können. Dafür ist es auf so einem Sitzplatz natürlich viel bequemer. Das erfuhr ich an diesem Abend auf schmerzhafte Weise, als sich meine Zehen nach ungefähr 1,5 Stunden einen Platz im Schuh suchen wollten, den es offensichtlich nicht mehr gab. Aber eine Frau, die im früheren Läuferinnenleben Marathon gelaufen ist, wird sich wegen solch lächerlicher Zehenkrämpfe nicht den Spaß verderben lassen. Ich weiß doch: Der Schmerz vergeht, die Erinnerung bleibt. Und so war es auch!
Und zunächst war ja auch noch kein Gedanke an Krampf und Schmerz. Zunächst war da die Enttäuschung, dass FOS 1 doch viel weiter weg von der Bühne war als erhofft. Um wirklich vorne stehen zu können, hätten wir wahrscheinlich Stunden früher vor der Arena herumlungern müssen. Auch der erwünschte Absperrungsplatz für anlehnungsbedürftige Damen fortgeschrittenen Alters war besetzt. Auf die Idee, dies Plätzchen könne ein gutes sein, waren noch etliche andere Fans gekommen. Immerhin war auf Nachfrage meinerseits ein anlehnungsbedürftiger jüngerer Mann so nett, mir zuzusichern, ich dürfe mich im Notfall – also wenn mir schwummerig werden würde – neben ihn an die Absperrung lehnen. Das erleichterte es mir ungemein, locker der weiteren Dinge zu harren. Es spielte übrigens eine Vorgruppe und verließ die Bühne wieder, ohne dass ich sie auch nur wahrgenommen hätte. Das ist leider das Schicksal fast aller DM-Vorgruppen.
Als es dann so weit war und Depeche Mode uns in ihrer Welt willkommen hießen, Welcome to My World, hatte ich mir eine komfortable Sichtlücke zwischen den Schultern und Köpfen zweier groß gewachsener Herren erobert, durch die ich tatsächlich Bühne und Musiker sehen konnte. Allerdings war die Gefahr groß, den Blick dauerhaft auf die riesigen Bildschirme zu richten, auf denen alles so schön groß und bunt flimmerte. Ich versuchte trotzdem, möglichst viel von der eigentlichen Action mitzuerleben und die Monitore zeitweise innerlich auszublenden. Das gelang mir bei Angel und Walking in my Shoes, nicht aber bei Precious – diese Hunde waren unglaublich!
Dann gleich zwei Klassiker nacheinander: Behind the Wheel und World in My Eyes – volle Konzentration auf die Bühne. Should Be Higher, keines meiner Delta-Machine-Lieblingsstücke, war live überraschend gut, ebenso wie John the Revelator vom Album „Playing the Angel“. Beide Songs zeigten, dass sich Depeche Mode nicht nur über ihre Bank an guten alten Klassikern definieren.
Time out für Dave, Martin sang Only When I Lose Myself und gleich im Anschluss Home. So oft live gehört, immer wieder grandios. Heaven schleppte sich dahin, Soothe My Soul, auch nicht so der absolute Kracher, zumal sich da meine Zehenspitzen zum ersten Mal bemerkbar machten. Wie treffend, dass gleich darauf eine ziemlich seltsame Version von A Pain That I ’m Used To folgte. Da konnte ich mich doch ganz auf mein Leid konzentrieren und es alsdann bei Soft Touch/Raw Nerve vorübergehend wieder vergessen. In Your Room, Enjoy The Silence, Personal Jesus – wen interessieren da Nebensächlichkeiten? Rrreach out and touch faith!
Bei Goodbye litt ich wieder – ich wusste ja, dies war nicht der Abschied, es würde einiges an Zugaben geben. Also versuchte ich, den Schmerz in meinen Füßen irgendwie wegzuverrenken, und es gelang. Zehengymnastik im geschlossenen Schuh sozusagen, bis zur Zugabe: Martin Gore sang Somebody, ach, auch das immer wieder herzzerreißend schön. Denn wem singt er nicht aus der Seele:
“I want somebody to share Share the rest of my life Share my innermost thoughts Know my intimate details Someone who’ll stand by my side And give me support.”
Jetzt Halo – einer meiner Lieblingssongs, und eines der Stücke, bei dem die Augen am Monitor kleben blieben, denn die Hintergrundsequenz war extrem magnetisch. Danach kam, was kommen musste, Just Can’t Get Enough, sie wollen es ja immer alle hören. Für mich ist das Lied ein notwendiges Übel, ich konnte es noch nie leiden. Ganz anders I Feel You, ich erinnere mich, als das Video Anfang der Neunziger erschien – unglaublich gut. Depeche Mode, Songs of Faith and Devotion – ein Meilenstein. Und nun endete der Abend, er endete mit Gänsehaut pur (diese Redewendung passt nur, und zwar ausdrücklich nur in diesem Kontext!): Never Let Me Down Again. Magie, die mich von allen Schmerzen erlöste und mich selig schnellen Schrittes zum Auto entschweben ließ. Front of Stage war richtig, sagt mir heute die Erinnerung. Ich würde es vielleicht wieder tun. Und trage bis dahin Depeche Mode wie seit Jahrzehnten busennah in meinem Herzen.